„Gaijin“

Ein kleines Mädchen blickt aus der großen Glasfront einer selbstfahrenden japanischen Metro.

„Wow, du warst in Japan?“ „Korrekt.“ „Das ist ja so cool! ich wollte schon immer mal nach Japan und habe mir selbst japanisch beigebracht. Wie war es und sieht es wirklich so aus, wie in Anime xy?“
Tut mir leid Japan-Fans: Ich habe weder Ahnung von Animes, Mangas oder Cosplays, noch war es mein großer Traum nach Tokio zu ziehen. Umso schwerer fällt es mir, auf solche Fragen eine Antwort zu wissen. In Japan landete ich durch Zufall. Eigentlich wollte ich nach Hongkong ins Bildungswesen, was jedoch mit Beginn der Regenschirmproteste Ende 2014 unmöglich wurde. Der Flug nach Asien war bereits gebucht, die Landung in Tokio eine Notlösung. Ich war weder vorbereitet, noch konnte ich ein Wort Japanisch. So schlimm wie in „Lost in Translation“ wird es ja schon nicht sein, dachte ich. Falsch gedacht… Gelandet in einem Dorf mitten im Winter irgendwo im Norden Japans. Ohne Heizung, ohne ein Wort Japanisch, ohne Internet. Man kann sagen, Japan habe es mir nicht ganz leicht gemacht, das Land zu mögen.
Doch mit jedem erlernten Wort Japanisch wurde der Alltag einfacher, und dennoch brach ich jede Sekunde aufs neue Millionen von gesellschaftlichen Regeln. Während mir in anderen Ländern die Einheimischen meine Fehler erklärten und so dafür sorgten, eben diese nicht zu wiederholen, wurde ich hier ignoriert. Japaner*innen stufen dich mit einem „Ach, Touristen“ und einem aufgesetzten Lächeln ab.
Auch dass ich im Laufe der Zeit mit Europäern und Amerikanern zusammen gezogen bin, hat mich der japanischen Kultur nicht stark näher gebracht, aber des Öfteren gerettet, denn von nun an bediente ich mich der Überlebensratschläge meiner Mitbewohner*innen und Mitarbeiter*innen, die zu unglaublich guten Freunden wurden.

Mit der Sicherheit, zumindest den "westlichen" Umgang im Haus zu kennen und auf Hilfe zurückgreifen zu können, lernte ich schnell die schönen Seiten Japans kennen. 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr einkaufen gehen können! Wundervolles Essen! Die Freundlichkeit aller Menschen! Das geniale „Lost & Found“ System! Richtig gute Karaoke Bars! Lustige Themen-Stundenhotels! Cat Cafés! Unglaublich verrückte Chinesische Partys. Und meine Schwäche für süßen Pflaumenwein…

Dennoch bleibe ich auf Ewig „die Ausländerin“. Erst nach und nach gelang es mir, Bekanntschaften zu knüpfen. Mit blauen Haaren wurde es besser, fast als sei ich einer Subkultur beigetreten. Je nach Stadtteil reagierte man begeistert auf meine flauschige Begleitung oder ignorierte uns komplett.

Japan ist teuer. Um meinen Lebensstandard zu halten, begann ich schnell viel zu Arbeiten und passte mich dem japanischen Arbeitsmarkt an: Ich wurde zu einem Roboter. Der harte Arbeitsalltag mit zwei Jobs hat mir nicht nur beigebracht, perfekt auf hohen Schuhen zu laufen, sondern auch Augenringe überzuschminken, blaue Haare seriös zu binden und abseits vom Service-Bereich den Männern den Vortritt zu lassen. Sei vor deinem Chef im Büro, gehe erst nach deinem Chef nach Hause. Schlaf ist für die Schwachen, die Richtigen schlafen im Büro.
Bald verstehe auch ich mich selbst nur als kleines Rad in einem großen Getriebe. Schnell merke ich, dass meine eigenen Ideen nicht gefragt sind, obwohl ich später durchaus in führenden Positionen tätig bin.
In Skype-Gesprächen nach Deutschland echauffierte ich mich häufig über getroffene Entscheidungen, doch auf der Arbeit beginne ich mich unterzuordnen. Es ist etwas anderes, ob ein Japaner oder eine Ausländerin einen Vorschlag macht, ob ein Mann oder eben eine Frau eine Idee einreicht.

Es geht ums gesehen und gesehen werden. Läuft man durch die Straßen, dann krempeln sich die jungen Schulmädchen auch im Winter die Röcke höher, ziehen ihre Strümpfchen zurecht und holen sich lieber eine Blasenentzündung, als im Winter eine Hose zu tragen. Hotpants und Miniröcke zieren die Straßen (auch bei -7° C), und obwohl ich mich mit diesen Modetrends super wohl fühlte, so würde man mich in Deutschland doch abfällig angucken, wenn ich in Overknee-Boots und Hotpants zur Uni kommen würde. Highheels im Büro waren für mich Pflicht. Mein Kleidungsstil war schon immer recht förmlich, aber Japan hat es auf die Spitze getrieben und mich stark geprägt. Hier musst du dünn sein, seriös sein und vor allem eins: Sehr gut und teuer angezogen. Um es mit den Worten der Frau aus Hongkong zu sagen: „Japaner erkennt man von Weitem. Das sind quasi die Russen Asiens.“
Über ihren Satz musste ich lachen, doch nach Deutschland kam ich mit einer Essstörung und dem Koffer voll Designer-Kleidung.
Mittlerweile esse ich wieder, ohne meine Kalorien zu zählen, doch meine Vorliebe für gute und formelle Kleidung ist geblieben.

Meinen ersten Anime sah ich in Japan. Meinen ersten Manga habe ich hier gelesen. Und das alles erst durch meine erstaunten Kolleg*innen, die begannen mich mit Material zu bewerfen, wenn ich bestimmte Namen und Studios nicht kannte. Und so verwundert es Menschen gerne, dass ich zwar ein paar Brocken japanisch spreche, aber trotzdem kein Interesse an ihrem Anime-Abend habe, kaum Figuren kenne und auch häufig kein Fan japanischer Kultur zu sein scheine. Auf die Frage „Wie war es in Japan.“, werde ich weiterhin mit „sehr groß, sehr voll, super schöne Natur, cherry blossom lohnt sich wirklich, aber der Arbeitsmarkt und Gesellschaft wird nie meins werden“ antworten und damit Japan-Fans weiterhin enttäuschen müssen.