It's Eurovision time!
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Das Ereignis des Jahres steht vor der Tür: Der Eurovision Song Contest! Vielleicht geht es dir wie mir und der Termin ist seit Bekanntgabe fest im Kalender vermerkt, das gemeinsame Schauen bereits geplant und alles Andere abgesagt.
Oder du schlägst jetzt schon die Hände vor dem Gesicht zusammen und notierst dir alle Hashtags stumm zuschalten.
In diesem Blog-Post versuche ich dich nicht zu überzeugen, sondern ich mache einen Deep Dive durch die Queere Kulturgeschichte des ESC.
Gründung
Jedes Jahr erzählen uns Moderierende in jeder freien Minute der ESC sei ein Projekten für Frieden in Europa, "Building Bridges", ein Projekt um Länder zusammen zubringen und mit Musik zu verbinden.
Dabei ist der damalige "Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne" 1956 von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) ins Leben gerufen worden um Geld zu machen. Oder wie die EBU über sich selbst schreibt:
As television services were introduced in most European countries in the mid 20th century, the European Broadcasting Union (EBU) created the Eurovision Network in 1954 for the exchange and production of common television programmes, in order to cost-effectively increase the programming material for national broadcasting organisations.
- EBU
In Kurzform: Fernsehen war das neue Medium und man musste das Programm füllen. Dabei war es viel kosten-effizienter eine Show für alle Länder zu machen, als für jedes Land seine eigene Show zu produzieren.
Es gab kein europäisches Projekt zur Förderung von Zusammenschluss und Frieden, sondern es war günstiger und Werbung für ein neues Medium. Das ist die traurige Wahrheit.
Live-Fernsehen, Live-Schalten und mehrere Länder. Dieses Meisterwerk der technischen Leistungen, sollte damals die Menschen vor die noch neuen Fernsehgeräte ziehen. Aber die technische Seite des ESCs ist noch eine ganz andere, wenn auch nicht weniger spannend.
Die noch traurigere Wahrheit: Man wollte lieber unter sich selbst bleiben und hat jahrelang den Osten nicht zugelassen. Während heute sogar Australien dabei ist und man zum Eurovision nur eine emotionale Bindung (und Geld), aber keine geographische Anwesenheit benötigt um teilnehmen zu können, sah es die ersten Jahre noch ganz anders aus.
In Zeiten des kalten Krieges kannte man die heute gepredigte Message "Wir vereinen Europa durch Musik" noch nicht.
Wladyslaw Szpilman organisierte 1962 Intervision. Das osteuropäische Gegenstück zum Eurovision, doch während beim Eurovision nur West-Europäische Länder teilnehmen durften, war beim Intervision die gesamte Welt eingeladen.
Fun Fact:
Karel Gott, den meisten wahrscheinlich bekannt als der Sänger von "Biene Maja" oder als Feature-Sänger von Bushido, nahm 1964 mit dem Lied "Tam, Kam Chodí Vítr Spát" am Intervision und 1968 mit "Tausend Fenster" am Eurovision teil.
Während die Intervision immer mehr zu einer "Propaganda"-Maschine wurde bei der Anti-Kommunistische Ausdrücke sanktioniert wurden, versteht sich Eurovision bis heute als "unpolitisch".
Dabei wird immer wieder betont dass "nur" landespolitische Aktionen untersagt sind. Was das genau heißt ist jedes Mal wieder eine Diskussion.
Palästina-Flaggen? Verboten. Auch wenn Madonna sie trägt.
Küsse von zwei Finninnen um sich für die Ehe für alle einzusetzen? Kein Problem.
T.a.t.u. wird jedoch 2002 bereits im Vorfeld ein Kuss auf der Bühne verboten.
Nachdem Russland illegal die Krim annektiert und eine Sängerin mit Einreiseverbot zum ESC in der Ukraine schickt, kein Problem.
Das die Ukraine sie nicht einreisen lässt, enttäuschend.
Einen Krieg innerhalb Europas anfangen? Ebenfalls kein Problem. Erst als Länder sich an die Seite der Ukraine stellen und Boykottdrohungen aussprechen, wird Russland ausgeladen.
Aserbaidschan darf seit 2008 teilnehmen und richtete 2012 den ESC aus. Menschenrechtsverletzungen? Egal, man ist unpolitisch.
...
Ich könnte diese Liste noch ewig weiterführen.
Dass das Event offiziell unpolitisch bleibt war auch wichtig um die meisten Zuschauenden zu erreichen. Wenn man möchte, könnte man sagen man möchte so generisch wie möglich sein um möglichst alle Schichten anzusprechen und so unpolitisch wie möglich um möglichst skandalfrei zu bleiben.
Wie also kann es sein, dass ein Event dass sich selbst als unpolitisch ausweist, Menschenrechtsverletzungen ignoriert und dem Prinzip einer generischen Musik-Show folgt ausgerechnet das queere Publikum anzieht?
Die WM für "theater-kids"?
Fragt man die mainstream Medien, dann liegt es daran dass schwule Männer nicht auf Sport stehen (... danke Klischees), sondern auf Party.
"Klaus Woryna, Präsident eines deutschen ESC-Fanclubs, meint, dass der Song Contest eine friedvolle, musikalische Olympiade voller Glitzer und Glamour sei und als länderübergreifende Party viele Schwule anziehe. Ähnlich sehen das die schwedischen Reporter Ronny Larsson und Ken Olausson. Viele Schwule seien nicht so sehr an Sport interessiert. Für sie ist der ESC das, was für andere die Fußball-WM ist."
- Jan Peters (Stern)
Ist es so einfach? Ist der ESC eine Veranstaltung bei der vor allem schwule Menschen CSD Style mit Glitter werfen und Party machen können?
Tatsächlich gründete sich bereits 1984 eine handvoll europäischer Eurovision Fan Clubs und dort war schwul sein keine Ausnahme, im Gegenteil. Dennoch dauerte es bis 1997, bis es mit Páll Óskar den ersten offen schwulen Teilnehmer gab.
Undercover Schwul
Je mehr Artikel ich lese, umso mehr wird mir eines klar: Alle Menschen die am Eurovision beteiligt waren, weil sie davon berichteten, das Make Up machten, oder die Bühne aufbauten, wussten wie "schwul" das Event war. Aber eben nicht öffentlich.
Schon vor Páll Óskar ('97) gab es schwule Tänzer, Choreographen, Komponisten und sogar Teilnehmer. Sie waren nur nicht öffentlich schwul. Bob Benny nahm 1959 und 1961 für Belgien am ESC teil, öffentlich als schwul geoutet hat er sich jedoch erst 2001. Und wer kann es ihm verdenken, denn die 1950er waren alles andere als gay-friendly. 1951 wird in den USA die Massenpanik vor Schwulen verbreitet ("lavender scare"), Alan Turing wurde 1952 "chemisch kastriert" und Homosexualität war in vielen Ländern eine Straftat.
1961 gewann nicht Bob Benny, sondern Jean-Claude Pascal mit dem Lied "Nous les amoureux", zu Deutsch "Wir, die Liebenden". Mit Zeilen wie „Die Dummköpfe und die Bösewichte / tun uns weh / und wollen uns eins auswischen“, oder "die Zeit wird kommen [...] und es wird möglich sein dich zu lieben, ohne das alle davon sprechen [...] [Gott] gab uns das Recht auf Freude und Glück.", wussten wahrscheinlich alle schwulen Zuschauenden was gemeint war, doch innerhalb des Liedes blieb das Geschlecht des besungenen Gegenübers neutral. Anders wäre das Lied 1961 wahrscheinlich nicht gezeigt worden.
Und so konnte die normativ und heterosexuelle Gesellschaft über "verbotene" Liebe träumen und die schwulen Zuschauenden ihren Schmerz in der später als "erste schwule Hymne" genannten Songs wiederfinden. Erst später machte Pascal öffentlich über die Liebe zu einem Mann gesungen zu haben.
Der ESC wurde also nicht erst plötzlich in den 90ern "gay" und in den 2000ern "very gay", er war es schon immer, nur halt nicht öffentlich, denn es ist ja eine Show für die ganze Familie der 1960er.
Vom Mainstream verschmäht
Man muss dazu sagen, die Medienlandschaft hat sich bis 1996 nicht wirklich für den ESC interessiert. Fußball WM, Top Hits, all das schrieb man auch in den Zeitungen nieder, doch nicht den Eurovision Song Contest.
"Warum konnte zu heteronormativen Formen der
Popularkultur geschrieben und geforscht werden, etwa zu den Beatles, zu
den Rolling Stones, zum Festival von Woodstock 1969 oder zum franzö-
sischen Chanson, nicht aber zu dem europäischen Kulturereignis schlecht-
hin, eben dem 1956 erstmals veranstalteten Eurovision Song Contest, bei
seiner Premiere am 24. Mai jenes Jahres in Lugano, Schweiz, »Grand Prix
Eurovision de la Chanson Européennes« genannt."
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
Vielleicht hat man sich auch schon deshalb so sehr dazu hingezogen gefühlt, eben weil man abseits der heteronormativen Popkultur war. Die Journalisten die trotzdem berichteten waren meistens schwul. Die meisten Reisenden waren es auch.
Denn das war ja seit meiner ersten Akkreditierung zu einem ESC, den ersten journalistischen
Ausflügen zu deutschen Vorentscheidungsshows (1991 im Berliner Fried-
richstadtpalast, im Jahr darauf in der Stadthalle von Magdeburg) so klar, wie es nur sein konnte: Die angereisten ESC -Aficionados einte eine gewisse Queerness – es waren überwiegend schwule Männer, ob unter Journalisten oder im Publikum, bei den Fans.
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
In den bürgerlichen Kreisen bereits verhasst und als "trashy" abgetan, war der ESC genau die Bühne, die die queere Welt gebraucht hat. Egal ob es das Ziel der EBU war, oder nicht. (Eher nicht)
"Die European Broadcasting Union in Genf, neben den jeweiligen ESC-
gastgebenden TV-Sendern verantwortlich für den Eurovision Song Con-
test, hatte die herangewachsene Fanbase ihrer Show zunächst nicht ernst
genommen. Es sei eine TV-Show – mit den entsprechenden Anforderun-
gen an die Produktionsbedingungen, in welchem Land und unter welchen
finanziellen Bedingungen auch immer."
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
Die junge Generation fand es nicht cool und modern und für etablierte Musiker*innen gab es kaum Anreize teilzunehmen, denn dass man es in die internationalen Charts schafft war eher die Ausnahme.
Daher war die Bühne hauptsächlich von Newcomer*innen besetzt und je nach Land wurden Beträge gewagt die eben nicht dem Mainstream entsprechen, denn wenn es nicht funktioniert, dann hat man es eh nicht gesehen.
Eine gute Basis um Künstler*innen eine Bühne für Experimente zu geben und die dürfen zwar nicht offen queer sein, denn das wäre ja politisch, aber zu einer Zeit in der queerness eh nur sehr selten offen möglich war, eine Möglichkeit.
1966 war Kleveland nicht nur die erste Frau mit Gitarre auf der Bühne, nein auch die erste Frau IN HOSEN!
1986 standen die Great Garlic Girls als Drag Gruppe auf der Bühne.
1998 gewinnt die trans Sängerin Dana International mit "Diva" den ESC.
2007 legt Marija Šerifović die wahrscheinlich bis jetzt lesbischte ESC Show hin und holt den Sieg nach Hause. Jahre vor ihrem öffentlichen coming-out.
.... the list goes on.
Zum Mainstream geworden
"Eurovision shifted from, in the late 1990s, an emerging site of gay and trans visibility to, by 2008–2014, part of a larger discursive circuit taking in international mega-events like the Olympics, international human-rights advocacy, Europe–Russia relations and the politics of state homophobia and transphobia."
- Catherine Baker, "The ‘gay Olympics’? The Eurovision Song Contest and the politics of LGBT/European belonging" (2017)
1974 katapultiert der ESC-Gewinn von ABBA mit ihrem Song "Waterloo" sie in die internationalen Charts und plötzlich war die ganze Welt im Eurovision hype. Australien begann die Übertragung 1980 und sag Celine Dion 1988 mit "Ne Partez Pas Sans Mois" mit nur einem Punkt Vorsprung gewinnen. Was für eine Spannung.
Dann kamen die 2000er und Eurovision war plötzlich mainstream.
ESC ist Camp
Ich erinnere mich als die straight-panic 2019 los ging, als die Met Gala unter dem Thema "Camp" stand. Camp... wie in Camping? Nope.
1964 publizierte Susan Sontag ihr Essay "Notes on 'Camp'" [PDF]. Das Werk der selbst lesbische Autorin, wird in akademischen Kreisen als "kulturtheoretischen Zugang zum schlechten Geschmack" beschrieben.
Und wahrscheinlich können alle Menschen schon mit dieser Beschreibung verstehen warum der ESC in diese Kategorie fällt.
Alles kann "camp" sein. Personen können "campy" sein. Dabei gibt Susan Sontag selbst keine genaue Definition des Begriffs, sonder ihr Essay besteht aus Auflistungen was Camp ist und was nicht. Ich versuche hier den selben Ansatz, mal sehen ob es funktioniert.
Lady Gaga mit Exzentrik, mit Texturen, mit Visionen, mit Make Up und Kunst die über normative Formen hinaus geht: camp.
Thomas Gottschalk, der Boomer im trashy Print Seiden Jacket: nicht camp.
Der Androgyne und visuelle gender nonkonforme, schon ins kontroverse grenzende von Måneskin, das jedoch auch in ein Art Magazin passen könnte: camp.
Der seductive vibe mit rockstar asthetic von St. Vincent gegenüber Dua Lipa bei den 2019 Grammys: She camps Dua.
Camp sieht alls in Anführungszeichen. Es ist nicht die Lampe. Es ist "die Lampe". Es ist nicht weiblich. Es ist "weiblich".
"Camp" dass weiß dass es "Camp" ist, oder "campy" sein will ist weniger spannend als navies "camp".
Hat nicht geholfen? Okay die un-artsy kurzform: "Camp" ist kein festgelegter Begriff sondern das Zelebrieren von unnormativen, artsy, androgynen, trashigen Inhalten. Du kannst etwas außerhalb der Norm probieren und wenn es nicht durchdacht ist, dann ist es scheiße, wenn es durchdacht ist, dann ist es "camp".
Und genau so sind ESC performances. Sie sind durchdachte Kunst Performances, vom Kostüm über die Deko bis zum Lied, aber weil eben "normativ" in jedem Land anders ist und Queerness zelebriert wird, kommen Präsentationen zustande die deinen Boomer Opa wahrscheinlich vom Hocker hauen.
Warum ist ESC in Deutschland dann so straight?
JA? WARUM? Warum muss ich mich per englischem VPN einloggen um die gute gaye Graham Nortan Kommentarspalte zu haben, wenn ich mir keine "kecken Sprüche" über kurze Outfits und unattraktivität von Frauen anhören möchte?
Warum sendet Deutschland so straighte Acts? Was ist da passiert?
Der von mir bereits viel zitierte Jan Feddersen nennt es die Politik der ARD.
Die ARD achtete obendrein stets darauf, dass die deutsche Vorentscheidung künstlerisch nicht von queeren Menschen okkupiert wird.
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
So moderierte von 1989 bis 1961 der damals noch nicht offen schwule Hape Kerkeling den deutsch Vorentscheid.
Hape Kerkeling, inzwischen eine schwule Ikone im deutschsprachigen Raum, Schauspieler, Comedian, Buchautor, wäre für den ESC als internationaler Moderator 2011 in Düsseldorf gewiss ein perfektes Gesicht für ein auch queeres, jedenfalls nicht mehr nur heteronormativ sich geben- des Land gewesen. Die Wahl fiel, wesentlich beeinflusst durch die kreative Leitfigur, die die deutsche ESC-Siegerin Lena Meyer-Landrut schuf, Stefan Raab, als Moderator*innen auf eben diesen Stefan Raab sowie auf Anke Engelke und die ARD-Nachrichtensprecherin Judith Rakers. Kerkeling stand nicht zur Debatte. Allzu offen Schwules gilt in der ARD nach wie vor als, wie es senderintern heißt, kontrovers.
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
Stephan Raab (absolut nicht campy!) selbst, der hetero-Mann in Person, sieht den ESC als seine eigene Herausforderung. Ein Punkte-Wettkampf den es aus die Raab-Art zu gewinnen gilt. 1998 als Produzent, 2000 als Teilnehmer, 2004 als Paten und 2010 als Casting-Leiter für Lena Meyer-Landrut, die gewann.
"Raab hat während aller Jahre seines Einflusses auf den ESC sich nie um
das Queere beim ESC geschert, weder Fanklubs in irgendeiner Weise be-
achtet noch einen sonstigen Bezug zum schwulen Umfeld der Veranstal-
tung gesucht. Am Ende hat Raab den ESC mit seinen queeren Hinter-
gründen jedoch nicht in heteronormative Wunschform bringen können."
- Jan Feddersen, „ESC – Queeres Weltkulturerbe“ (2021)
Und bis heute ist Eurovision für die ARD kein queeres Ding und ignoriert gekonnt die Subkultur. Peter Urban moderiert sein letztes Jahr und Jan Böhmermann und Olli Schulz testen bereits ihre Nachfolge in der Moderation... Barbara Schöneberger die immer mal wieder mit queerfeindlichen Aussagen auffällt darf natürlich nicht fehlen.
Im online Format moderieren Alina Stiegler und Stefan Spiegel für die ARD. Immerhin eine queere Person ist also dabei.