Die Radioaktivität im Nacken

In Kiew schaue ich auf mein Strahlen-Dosimeter. Leise summt es im Takt. Das Display zeigt 0.14 µSv/h. Noch ist alles absolut normal, aber in einer paar Stunden werde ich die Sperrzone von Tschernobyl betreten.
Das erste Mal in meinem Leben habe ich vor einer Reise Angst. Normalerweise kann ich die Gefahren meiner Reisen abschätzen. Man darf es sich nicht mit der Regierung verscherzen, keine Gesetze brechen und sich an Sicherheitshinweise halten. Befolgt man diese simplen Regeln, so hat man häufig nichts zu befürchten. Von nun an liegt es an einem selbst, in wie viel Schwierigkeiten man sich bringen möchte, oder hat Pech. Am Ende hofft man dank seiner privilegierten Staatsbürgerschaft aus seiner misslichen Situation befreit zu werden.

All diese Schäden, so schrecklich sie auch werden können, scheinen reparabel. Setze ich mich hingegen einmal einer zu hohen Strahlendosis aus, wird dies mein Leben auf ewig beeinflussen. Freund*innen und Verwandte sind besorgt, fragen, ob ich mir schon Eizellen habe einfrieren lassen für den Fall, dass ich unfruchtbare werde, oder legen mir nahe, Jod-Tabletten zu nehmen. Das erste Mal kann ich ihre Bedenken nicht mit einfachen Sätzen wegwischen, denn ja ich habe keine Ahnung von Radioaktivität. Ich weiß noch aus der Gymnasialzeit etwas über instabile Atome, kann Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung unterscheiden, aber dann hört mein Wissen auf.
In meinem Kopf spuken lediglich Schauergeschichten, von radioaktiv beeinflussten Fotographien und den verstörenden Eindrücken aus Hiroshima.
Während in Hiroshima schon wieder Menschen leben, ist die Gegend um Tschernobyl allerdings noch immer eine Sperrzone und das, obwohl die Katastrophe nun schon 30 Jahre zurück liegt.
Mein Heimatdorf hat noch immer ein Austauschprogramm für Kinder und andere Personen aus den ehemaligen Gebieten und in Deutschland werden Pilze noch immer auf ihre Strahlendosis geprüft, ehe sie in den Verkauf gehen.
All diese Dinge schwirren durch meinen Kopf, und dabei war ich in den letzten Jahren Vielfliegerin und habe mich damit sehr häufig höheren Strahlendosen ausgesetzt. Gedanken gemacht habe ich mir darüber keine. Ich habe es nicht einmal protokolliert und nun, wo ich kurz davor stehe, die Tschernobyl-Sperrzone zu betreten, macht es mir auf einmal Angst.

Wir stehen vor der 10-km-Sperrzone und müssen durch unsere erste Kontrolle. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine gibt es ein Gesetz, wonach alle Dinge der früheren Sowjetunion zerstört werden müssen. Die Sperrzone ist von diesem Gesetz ausgenommen. Die Zerstörung der einzelnen Bauwerke würde zu viel radioaktiven Staub aufwirbeln. Genau dieser Staub ist es, der die Zone noch immer gefährlich macht.
Nicht nur das Gelände, sondern auch das Personal sei in der Sowjetzeit hängen geblieben, witzelt unser Guide und erzählt uns vom langen Kampf, das Personal von Fax auf eMail umzustellen.
Unsere Papiere werden kontrolliert, wir passieren die Schranke und ich blicke auf mein Messgerät. Nichts passiert. Die Strahlung steigt nicht und ich fühle mich schon etwas dumm zu glauben, dass mit dem Betreten der Sperrzone ein schlagartiger Strahlungsanstieg zu erwarten ist.
Viele Fotos später sind wir in Tschernobyl-„City“. Noch immer kein Strahlungsanstieg. Das Messgerät bleibt bei 0.14 µSv/h. Wir betreten das Hotel und ich bin überrascht. Gedeckte Tische, bequeme Betten, und sogar Internet. Von erhöhter Strahlung weiterhin keine Spur.

Ich weiß nicht, was gruseliger ist: eine zu hohe Strahlung oder, dass einfach nichts zu passieren scheint. Sachen abgeladen, Tasche umgepackt und durch die zweite Kontrolle. Wir betreten die 3-km Sperrzone. Wieder kein Anstieg der Radioaktivität. Als wir das Auto verlassen und auf der befestigte Straße stehen, schlägt mein Messgerät das erste Mal aus, wenn auch nur minimal. Unser Guide zeigt uns einen sogenannten „Hotspot“. Dabei handelt es sich um einen Punkt, an dem die Strahlung deutlich höher ist als an anderen.
Guides bekommen die Gebietskarten zur Verfügung gestellt, auf welchen sich die bekannten Hotspots befinden. Dieser Hotspot zu Beginn ist mit einem gelb-roten Radioaktivitätssymbol markiert. Später werden wir auf einige Hotspots treffen, bei denen man sich diese Mühe nicht gemacht hat. Das Dosimeter zeigt 1.05 µSv/h. Das 10-fache des Wertes in Kiew. Mir wird schon etwas mulmig. Von diesem Punkt aus laufen wir durch ein Waldstück und nun stellen sich mir die Nackenhaare auf. Vor dem Antritt meiner Reise sprach ich mit Freund*innen und Bekannten mit Physik-Hintergrund, um ihre Meinung über meine Reisebedenken einzuholen und mir Sicherheitstipps geben zu lassen. Der oben genannte Staub sei ein Problem, befestigte Straßen und Gebäude hingegen seien nicht mehr verstrahlt. Des Weiteren solle ich mich von Pflanzen und bewachsenen Gebieten fern halten. Diese würden die Radioaktiv aufnehmen und selbst zu strahlenden Objekten werden.
Jetzt werden wir allerdings abseits der Straße durch eben diese bewachsene Gebiete geführt und mein Messgerät rastet völlig aus. Zwischen 0.3 und 0.6 µSv/h liegen die Zahlen auf dem Display und am liebsten möchte ich rückwärts wieder aus dem Waldgebiet rennen. Der Wert, den ich in meinem Kopf als „normal“ eingetragen habe, hat sich soeben mehr als verdoppelt.

Im Laufe der Zeit stelle ich für mich fest, wie wahr die mir gemachten Angaben sind. Auf befestigten Straßen, im Auto und in Gebäuden liegt kaum noch eine erhöhte Strahlung vor. Lediglich vereinzelt an bestimmten Objekten oder in bestimmten Gebieten fällt die Strahlung höher aus. Einen deutlich höheren Grundwert zwischen 0.8 und 5.0 µSv/h erhält man jedoch in Waldgebieten.
Fast schon erschreckend finde ich es, wie schnell man sich an diese Werte gewöhnen kann. Zu Beginn eines jeden höheren Wertes merkte ich ein leichtes Unwohlsein. Waren zuerst 0.3 µSv/h der Grund besorgt auf sein Messgerät zu schauen, so machten mir innerhalb weniger Stunden 1.0 und 2.0 µSv/h nicht mehr viel aus. Zum Ende hin begann ich erst bei 5.0, später sogar erst bei 10.0 µSv/h besorgt auf das Dosimeter zu schauen. Radioaktivität und die Folgen sind für mich einfach nicht wahrnehmbar und mir somit auch nicht bewusst. Alles ist zu abstrakt.

Zu sehen sind lediglich Werte auf einem kleinen, manchmal piependen Display. Ich kann nichts schmecken, fühlen, oder sehen. Radioaktivität ist ungreifbar.
Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich habe das Gefühl für Radioaktivität verloren. Ich hatte nie eins. Es scheint wie eine reine Willkür, wann etwas verstrahlt ist und wann nicht. Hotspots kann man nicht erkennen, Strahlung ist lediglich lokal. Entfernt man sich nur einen cm, kann es passieren, dass der Wert von 2.3 auf 0.2 µSv/h abfällt. Nur wenige kleine Schritte können einen enormen Unterschied machen. Es ist gruselig.

Am Ende zeigt mein Dosimeter 0,010mSv Gesamtdosis, nach 35 Stunden in der Sperrzone. Ein Viertel der Strahlenbelastung, die man auf einem Flug von Hamburg nach Tokio erhält. Es ist ein beruhigendes Gefühl und entspannt auch all die Menschen zu Hause, die sich um mich gesorgt haben.

Am Ende werde ich Radioaktivität noch immer nicht begriffen haben, sie macht mir weiterhin Angst und der Gedanke sorgt für Unbehagen. Doch ich habe die Panik davor verloren und glaube, Situationen mit radioaktiver Strahlung deutlich besser einschätzen zu können, bzw entspanne mich bei dem Gedanken sie eben nicht schätzen zu können. Ich würde die Sperrzone ohne Sorge wieder betreten. Meine dort getragene Kleidung ist dennoch im Müll gelandet. Sicher ist sicher.